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Siebenpunkt

Es war einmal eine kleine weichhäutige, schlanke und quicklebendige Larve, die schnell wachsen und herausfinden wollte, was am gesündesten für sie sein könnte. Das Einfachste war sicher, alles ein wenig anzuknabbern. Und wenn es kein Bauchweh gab, dann müsste es gesund sein.

So suchte die Larve sich ein Blumenbeet mit Margeriten, Gänseblümchen und wunderschönen roten Rosen, um die kleinen Blattläuse zu finden, von denen ihre Geschwister bereits geschwärmt hatten. – Beim Gedanken an das Festmahl lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Doch leicht fiel es ihr nicht, den langen Weg bis zur Rosenblüte mit den Rosenblattläusen zurückzulegen. Der kräftige Wind bewegte den unendlich langen Stiel hin und her. Die Larve sah nach unten. Sie war weit von der Erde entfernt, sollte dabei noch über wacklige Blätter kriechen und nach Läusen suchen. Die Larve beschloss kurzerhand, den Ausflug auf einen Tag mit mehr Sonnenschein und weniger Wind zu verschieben.

Geschwind kletterte sie am Rosenstiel hinab und krabbelte auf ein kleines Gänseblümchen zu, das nicht weit von ihr entfernt im Rasen blühte. Ja, schon besser. Das Gänseblümchen leuchtete zwar nicht so appetitlich rot wie die Rose, war aber auch nicht so entsetzlich hoch für den ersten Ausflug. Desto näher die kleine Larve dem Gänseblümchen kam, desto mehr wünschte sie sich, eine Blattlaus an ihm zu finden. Ihr Magen knurrte bereits laut. Endlich sah sie eine kleine Blattlaus, die fast so grün war wie die Blätter des Gänseblümchens. – Jetzt schnell noch ein bisschen klettern und das erste Mittagessen alleine fangen. Wie stolz würden ihre Eltern sein, wenn sie davon hörten.

Flink krabbelte die kleine Larve über die letzten Grashalme, die sie vom Festmahl trennten.

„Wie lecker eine Blattlaus ist”, dachte sie, als sie den letzten Bissen schmatzend herunterschluckte. „Mami und Papi hatten Recht, dass sie köstlich schmeckt. Gleich morgen früh suche ich mir eine Margerite, die nicht so hoch ist wie die Rose. An ihren Stielen sitzen sicher auch viele Blattläuse. Ich finde bestimmt noch viele.”

Mit dem Gedanken an das nächste leckere Essen schlief die kleine Larve ein. Sie träumte von einer großen Blattlauskolonie in luftiger Höhe und wachte beim ersten Sonnenstrahl auf. Jedoch war sie überall ganz rot, ab und zu hatte sie schwarze Flecken.

„Hoffentlich bin ich nicht krank geworden, weil ich das Falsche gegessen habe!”

Die Larve zitterte vor Angst und dabei entfaltete sich ein doppelter Fächer auf ihrem Rücken. Die Kleine wollte schnell zu ihren Eltern kriechen, denn die wüssten bestimmt, wie man die rote Farbe entfernen und den Fächer loswerden könnte. Doch die Larve war unaufmerksam. Als sie den Grashalm hinunterkletterte, auf dem sie geschlafen hatte, stürzte sie ab und zappelte heftig in der Luft. Der Fächer entfaltete sich erneut, und zum Vorschein kamen zwei kräftige rote Flügel mit sieben schwarzen Punkten.

„Hilfe, ich falle, helft mir doch!”, rief die Larve erschrocken.

Glücklicherweise kam von irgendwo her ein unterstützender Rat: „Bewege deine Flügel gleichmäßig im Wind, dann landest du wieder sicher auf der Erde. Keine Sorge, du bist jetzt erwachsen geworden!”

„Erwachsen geworden, über Nacht? Wie geht das, lag das an der Blattlaus, die ich gestern gegessen habe? Vielleicht war die schlecht. Hätte ich nur diesen Ausflug nicht allein gemacht, dann wäre alles noch so wie früher!”

Der kleine Käfer schluchzte bitterlich auf seinem Heimweg.

„Warum weinst du denn”, fragte ihn seine Mutter, als sie sein tränennasses Gesicht sah.

„Sieh mal, ich bin ganz rot, weil ich eine Blattlaus gegessen habe. Außerdem habe ich sieben schwarze Punkte auf dem Rücken und einen komischen Fächer. Ich will nicht zum Arzt!”

Wieder kullerten dicke Tränen.

„Mein kleiner Siebenpunkt”, sagte sie zärtlich, „du bist nicht krank. Sei unbesorgt, es wird Zeit, dass ich dir erkläre, wie aus einer hässlichen und unscheinbaren Larve ein kleiner roter Marienkäfer wird.”

Siebenpunkt kuschelte sich auf einem taufrischen Blatt an seine Mutter und hörte ihr gespannt zu. Sie erzählte über das Erwachsenwerden und über die Aufgabe eines Marienkäfers, möglichst alle Pflanzen und Bäume nach Läusen abzusuchen, so hoch sie sich auch vor ihnen versteckten.

„Dazu allerdings”, erklärte ihm seine Mutter, „braucht man Flügel. Sie erleichtern dir den Weg. Du musst nicht mehr klettern und keine Angst vor schwankenden Blattstielen haben. Du kannst fliegen, wohin du willst, um dir die dicksten Blattläuse zu fangen.”

„Wirklich, überall hin, egal wie hoch, auch auf Bäume?”

Diese Vorstellung machte Siebenpunkt Angst, weil er an den missglückten Ausflug auf die Rose dachte, die noch viel kleiner als Bäume war.

„Wenn ich auf einen Baum fliege, hilfst du mir dabei?”, bat er seine Mutter.

„Aber natürlich begleite ich dich auf deinem ersten großen Ausflug, mein Schatz. Heute Mittag wagen wir einen Versuch. Wir suchen uns zuerst einen kleinen Baum aus. Mal sehen, vielleicht eine Fichte, die ist nicht so hoch wie die Birken hinter dem Garten. Ihre Äste bieten eine bessere Landemöglichkeit, weil sie nicht so wacklig sind. Du kannst dann eine Fichtenbaumlaus probieren, wenn wir Glück haben. Auch die dürfen wir essen. Sie schmecken zwar nicht so gut wie Blattläuse, aber etwas Abwechslung auf dem Speisezettel kann nicht schaden.”

„Wie lange dauert es noch bis zum Mittag?“, fragte Siebenpunkt aufgeregt.

„Etwa vier Stunden. Aber du wirst sehen, die Zeit vergeht schnell. Spiele noch ein wenig mit deinen Flügeln im Wind.“

Artig gehorchte Siebenpunkt seiner Mutter.

„Siebenpunkt, es geht los! Nimm einen kräftigen Anlauf! Wir fliegen zuerst über die Pergola, dann über die Kiwihecke bis zum Teich. Dahinter siehst du schon die kleine Fichte, von der ich dir erzählt habe.”

Welch ein wunderbares Gefühl war es, hoch über der Erde dahinzugleiten und die Flügel von der Mittagssonne wärmen zu lassen! Siebenpunkt schaffte es noch nicht, der geraden Fluglinie seiner Mutter zu folgen. Mal flog er über oder unter ihr her, aber für den ersten großen Ausflug hielt er sich recht tapfer. Sogar das Landen bereitete ihm keine allzu großen Schwierigkeiten, weil die kräftigen Äste der Fichte einen kleinen Marienkäfer mühelos tragen konnten. Von Nachteil waren die piekenden Nadeln, wenn er nicht geschickt genug darüber hinwegkletterte.

Endlich konnte die Suche nach den begehrten Fichtenbaumläusen beginnen. Beide hangelten sich an den Ästen empor und suchten eifrig. Plötzlich schimmerten drei dicke Läuse im Sonnenlicht nur knapp über ihnen. Eine Kleinigkeit also bis zum ‚gedeckten Tisch‘.

Siebenpunkt schlug heftig mit den Flügeln auf und ab, bis er bei der ersten Laus war. Er biss kräftig zu und verspeiste sie laut schmatzend. Auch Frau Glückskäfer fand ihre Mahlzeit in der Nähe. Nachdem beide den letzten Bissen heruntergeschluckt hatten, räkelten sie sich genüsslich in der Mittagssonne.

„So, mein Sohn, unser Ausflug ist fast beendet. Nach der kleinen Pause fliegen wir zurück.”

Siebenpunkts Stimme zitterte erneut: „Ich fürchte mich, wenn ich gleich losfliegen soll, ohne Anlauf zu nehmen. Ich stürze bestimmt ab!”

„Keine Angst, mein Schatz, ich bin doch bei dir. Sieh genau zu wie ich starte, dann wird alles gut!”

Mitten in Siebenpunkts schlimmste Fantasien dröhnte es plötzlich. Das Geräusch wurde immer lauter. Was war das für ein vertrautes Brummen? Etwas Gelbes mit schwarzen Streifen schoss an ihnen vorbei und landete zwei Äste weiter im Schatten.

„Hallo, Siebenpunkt, schön dich in so luftiger Höhe zu sehen! Du hast viel gelernt seit gestern.”

„Woher kennst du meinen Namen, und was weißt du von meinen Flugversuchen?“

„Denk doch mal nach! Erinnerst du dich nicht an die Stimme, die dir zurief, deine Flügel zu bewegen, und die dir sagte, du bist erwachsen geworden. Das war ich, Frau Honigbiene.”

„Ach ja, ich weiß schon, mein Sturz vom Grashalm. Aha, du warst das also. Ich wusste nicht, wie du aussiehst, weil ich nur deine Stimme gehört habe.”

„Leider muss ich euch sofort wieder verlassen. Ich muss Pollen sammeln, sonst bekomme ich Ärger mit meiner Königin. Schade, war nett mit euch zu plaudern. Vielleicht sehen wir uns später mal wieder.”

Frau Honigbiene spannte ihre Flügel auf und verschwand laut summend in Richtung Blumenwiese.

„Siebenpunkt, wir müssen zurück, es kommen dunkle Wolken. Möglicherweise gibt es ein Gewitter. Wir sollten nicht länger hier bleiben. Beeilen wir uns, um einen ruhigen Flug zu haben, bevor uns der Wind in die falsche Richtung bläst.”

„O. k., aber du musst mir den einfachsten Weg zeigen.”

Immer noch etwas unbeholfen, aber schon sicherer als bei seinem Hinflug folgte Siebenpunkt seiner Mutter.

„Sieh mal, die Ritzen in der Mauer bieten uns einen guten Regenschutz. Dort kriechen wir hinein und warten ab, bis die Sonne wieder scheint.”

Beide zwängten sich in die kleine Mulde.

„Hallo – das ist aber ein Zufall, dass ihr euch gerade hier einen Unterschlupf sucht! Ich bin froh, dass ihr wieder da seid! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wo ihr so lange bleibt.”

Siebenpunkt begrüßte seinen Vater mit einem zärtlichen Fühlerstups: „Du Papi, heute habe ich meinen ersten großen Ausflug gemacht und Fichtenbaumläuse gegessen. Das war toll. Mami hat mir alles über das Erwachsenwerden erzählt und gezeigt, wie man fliegt.”

Siebenpunkt bewegte seine Flügel auf und ab und machte einige akrobatische Flugübungen vor seinem Vater, der ihn stolz beobachtete.

„Jetzt ist auch unser Nesthäkchen groß”, sagte er zu Siebenpunkts Mutter. „Wie doch die Zeit vergeht! Du wirst sehen, bald möchte er nur noch allein fliegen und braucht unsere Hilfe nicht mehr. Schau, der erste Ausflug hat ihn schläfrig gemacht. Seine Fühler hängen schon über seine Augen. Er träumt bestimmt vom Ausflug. Lassen wir ihn schlafen, bis der Regen aufhört. Morgen kann er wieder üben. Hoffentlich findet er dabei Freunde zum Spielen. Vielleicht lernt er sogar bald eine kleine Freundin kennen, mit der er glücklich sein kann!”

 

© Elke Brinkmann-Pytlik